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Haftbefehle gegen Kevin N. und Marvin W. aufgehoben Az. 1 St 2 BJs 153/23 (2)


Erstellt von Thüringer Oberlandesgericht

Der 1. Strafsenat des Thüringer Oberlandesgerichts hat mit Beschlüssen vom 28.10.2025 die Haftbefehle gegen Kevin N. und Marvin W. aufgehoben. Die Angeklagten Kevin N. und Marvin W. befanden sich aufgrund eines vom Bundesgerichtshof erlassenen Haftbefehls seit Dezember 2023 in Untersuchungshaft. Aufgrund der Entscheidung des 1. Strafsenats sind beide Angeklagte nun unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu entlassen.

Der Senat geht nach dem bisherigen Verlauf der Beweisaufnahme nicht mehr davon aus, dass dringenden Gründe vorlägen, die für die Mitgliedschaft der Angeklagten in einer terroristischen Vereinigung (§ 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB) sprächen. Es fehle an dringenden Anhaltspunkten dafür, dass über tatsächliche Notwehrlagen hinaus Gewalthandlungen unter Inkaufnahme des Todes anderer Menschen begangen werden sollten. Damit dürfe die Untersuchungshaft nicht auf Grundlage von § 112 Abs. 3 StPO, der ausdrücklich auf § 129a StGB Bezug nimmt und keine weitergehenden Haftgründe (z.B. Fluchtgefahr) verlangt, aufrechterhalten werden. 

Ob der Tatverdacht auf die Mitgliedschaft an einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB) sich weiterhin als dringend darstelle, hat der Senat offengelassen. Denn selbst im Fall des dringenden Tatverdachts auf eine solche Mitgliedschaft könnten keine Haftgründe (§ 112 Abs. 2 StPO) festgestellt werden bzw. wäre der weitere Vollzug der Untersuchungshaft zwischenzeitlich unverhältnismäßig geworden.

Für die Anordnung und den Fortbestand der Untersuchungshaft sei zunächst das Vorliegen eines Haftgrunds, also Flucht- oder Verdunklungsgefahr, erforderlich. Der Senat hält es nicht für dringend wahrscheinlich, dass die Angeklagten Kevin N. und Marvin W. flüchten würden. Auch Anhaltspunkte dafür, dass die Angeklagten auf Beweismittel einwirken wollten, lägen nicht vor. Deswegen sei die Untersuchungshaft, die ohnehin nur der Verfahrenssicherung diene und keine vorweggenommene Bestrafung darstelle, nicht länger gerechtfertigt.

Der Senat verweist schließlich auf das rechtsstaatliche Gebot der Verhältnismäßigkeit, das für die Untersuchungshaft ausdrücklich in § 120 StPO gesetzlich verankert sei und dem ein hoher Stellenwert zukomme. Je länger die Untersuchungshaft bereits andauere, desto stärker wirke das Freiheitsrecht des Einzelnen bei der Abwägungsentscheidung. Ausgehend von dem Tatvorwurf der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung könne die in diesem Fall verbleibende Straferwartung der Angeklagten bei Berücksichtigung der Anrechnung der Untersuchungshaft die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr ohne Weiteres rechtfertigen.

Der Generalbundesanwalt kann gegen diese Beschlüsse Beschwerde zum Bundesgerichtshof einlegen.

Thüringer Oberlandesgericht, Az.: 1 St 2 BJs 153/23 (2)

Jena, den 28.10.2025

Verfasserin der Medienmitteilung:

Richterin am Oberlandesgericht Dr. Steinle
- Mediensprecherin -

Anhang:

§ 112 StPO  Voraussetzungen der Untersuchungshaft; Haftgründe

(1) Die Untersuchungshaft darf gegen den Beschuldigten angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. Sie darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht.
(2) Ein Haftgrund besteht, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen     

  1. festgestellt wird, daß der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält,
  2. bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles die Gefahr besteht, daß der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen werde (Fluchtgefahr), oder
  3. das Verhalten des Beschuldigten den dringenden Verdacht begründet, er werde
    a) Beweismittel vernichten, verändern, beiseite schaffen, unterdrücken oder fälschen oder
    b) auf Mitbeschuldigte, Zeugen oder Sachverständige in unlauterer Weise einwirken oder
    c) andere zu solchem Verhalten veranlassen,
    und wenn deshalb die Gefahr droht, daß die Ermittlung der Wahrheit erschwert werde (Verdunkelungsgefahr).

(3) Gegen den Beschuldigten, der einer Straftat nach § 6 Absatz 1 Nummer 1 oder § 13 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches oder § 129a Abs. 1 oder Abs. 2, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1, oder nach den §§ 176c, 176d, 211, 212, 226, 306b oder 306c des Strafgesetzbuches oder, soweit durch die Tat Leib oder Leben eines anderen gefährdet worden ist, nach § 308 Abs. 1 bis 3 des Strafgesetzbuches dringend verdächtig ist, darf die Untersuchungshaft auch angeordnet werden, wenn ein Haftgrund nach Absatz 2 nicht besteht.

§ 129a StGB Bildung terroristischer Vereinigungen

(1) Wer eine Vereinigung (§ 129 Absatz 2) gründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind,

  1. Mord (§ 211) oder Totschlag (§ 212) oder Völkermord (§ 6 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Kriegsverbrechen (§§ 8, 9, 10, 11 oder § 12 des Völkerstrafgesetzbuches) oder
  2. Straftaten gegen die persönliche Freiheit in den Fällen des § 239a oder des § 239b
  3. (weggefallen)

zu begehen, oder wer sich an einer solchen Vereinigung als Mitglied beteiligt, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.

      (…..)

(4) Gehört der Täter zu den Rädelsführern oder Hintermännern, so ist in den Fällen der Absätze 1 und 2 auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren, in den Fällen des Absatzes 3 auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren zu erkennen.

(….)

§ 129StGB Bildung krimineller Vereinigungen

(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine Vereinigung gründet oder sich an einer Vereinigung als Mitglied beteiligt, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind. Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine solche Vereinigung unterstützt oder für sie um Mitglieder oder Unterstützer wirbt.

(2) Eine Vereinigung ist ein auf längere Dauer angelegter, von einer Festlegung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der Mitgliedschaft und der Ausprägung der Struktur unabhängiger organisierter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses.

(….)